„Der Nutzen von Industrie 4.0 besteht nicht aus Einzellösungen“

In den vergangenen zehn Jahren haben mehr als 2.000 Mitarbeiter aus Industrieunternehmen das Aus- und Weiterbildungsangebot der TU Darmstadt genutzt und sich rund um die Themen Industrie 4.0, Digitalisierung und effiziente Produktion informiert sowie entsprechende Umsetzungsstrategien erarbeitet. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter Jens Hambach, Andreas Wank und Masterstudent Jonas Lauer geben im Interview Auskunft, wie weit der deutsche Mittelstand mit der Digitalisierung bisher vorangekommen ist und wo noch Verbesserungspotenzial besteht.

Mit welchen Fragestellungen kommen die Teilnehmer aus der Industrie zu Ihnen?

Hambach: Die Begriffe Industrie 4.0 und Digitalisierung sind in aller Munde und doch herrscht Unsicherheit darüber, was das genau sein soll. Viele Unternehmen wollen sich daher bei uns erst einmal einen Überblick verschaffen, welche Themen und Ansätze es gibt und wie sie den Einstieg in Richtung Industrie 4.0 schaffen und die Digitalisierung vorantreiben können.

Worin liegt dabei ihrer Erfahrung nach das größte Missverständnis?

Hambach: Viele Teilnehmer kommen und denken in aktuellen Schlagwörtern wie cyber-physische Systeme, Internet of Things, selbstlernende Systeme und digitale Schatten. Diese Begriffe wecken Interesse und sensibilisieren die Verantwortlichen in den Unternehmen. Das ist grundsätzlich positiv, allerdings sind das nur Instrumente. Ein vorrangig an der Technik orientierter Ansatz ist jedoch in der Regel nicht zielführend. Wir raten zum methodischen Vorgehen beziehungsweise einem nutzenorientierten Ansatz, bei dem die Überlegung im Vordergrund steht, was sich konkret im Produktionsablauf verbessern lässt.

Hinkt der deutsche Mittelstand bei der Umsetzung von Industrie 4.0 demnach hinterher?

Wank: Bei Unternehmen mit weniger als 250 Mitarbeitern geschieht in der Tat noch wenig. Größere Unternehmen mit bis zu 2.000 Mitarbeitern haben dagegen schon einiges in die Digitalisierung investiert. Jedoch handelt es sich in der Regel um Einzellösungen, die sich bestimmten Aspekten widmen. Jetzt ist es an der Zeit, diese Einzellösungen zu verknüpfen – weg also von einzelnen Use Cases hin zu Solution Sets, damit die Wertstromsicht zum Tragen kommen kann. Da sehen wir noch Defizite.

Was bedeutet das konkret?

Hambach: Die Unternehmen haben ja verschiedene Systeme, die sie nicht kurzfristig ersetzen können und wollen – vom ERP-System über ältere Anlagen bis zu diversen Insellösungen mit Messtechnik und Sensorik. Welche Hürden in der Praxis auftauchen, konnten wir am eigenen Leib erfahren, als wir im Rahmen des Projekts „Effiziente Fabrik 4.0“ versucht haben, in unserer Lernfabrik auf die Daten einer 2005 gebauten Drehmaschine zuzugreifen. Die verwendete Steuerung erlaubte keinen direkten Zugriff auf die Maschinendaten. Der Hersteller verlangte 20.000 Euro für ein entsprechendes Upgrade – für uns, wie für viele KMUs, ist das kein gangbarer Weg. Wir sind daher einen Schritt zurückgegangen und haben uns überlegt, welche Daten wir für unsere Aufgabenstellung wirklich benötigen. Dann haben wir uns nach einer Lösung umgesehen, die diese Daten abgreifen, aufbereiten und zusammen mit unseren anderen Systemen zu einem Gesamtsystem verknüpfen kann. Das war der Zeitpunkt, als wir auf APROL aufmerksam wurden.

Für das Sie sich am Ende auch entschieden haben?

Wank: Ja. Ein Grund war, dass das System skalierbar ist, sodass eine schrittweise Umsetzung und Erweiterung von Industrie-4.0-Konzepten möglich ist. Zudem ist APROL mit einer großen Bandbreite an Standardschnittstellen wie OPC UA oder ODBC ausgerüstet. Die Integration einer Vielzahl bestehender Produktions- und IT-Systeme kann so auf allen Ebenen schnell und standardisiert erfolgen. Gleichzeitig erlaubt APROL es, eigene Schnittstellen zu implementieren oder auf Open-Source-Bausteine zurückzugreifen und diese nahtlos zu integrieren. Dies haben wir beispielsweise genutzt, um eine REST-Schnittstelle in Python zu realisieren. Diese behandelt APROL wie eigene Bausteine. Das Prozessleitsystem lässt sich also wegen der umfangreichen Schnittstellenausstattung und der Flexibilität problemlos in bestehende und neue Anlagen einfügen.

Wie binden Sie Daten von Maschinen ein, die - wie die von Ihnen erwähnte Drehmaschine - über keine der unterstützten Standardschnittstellen verfügen?

Hambach: Dazu waren nur wenige, einfache Maßnahmen erforderlich. Beispielweise haben wir zwischen einem Sensor und der Maschinensteuerung einen kleinen Adapter eingefügt, mit dem wir bidirektional auf einen Füllstandsensor zugreifen können. Damit können wir ohne Eingriffe in die Steuerung aktuelle Messdaten abrufen. Wir haben hierauf aufbauend eine Funktion realisiert, die den Maschinenbediener bedarfsorientiert zum Nachfüllen des Schmierstoffs auffordert. Zusätzlich greifen wir Signale direkt im Schaltschrank ab. Hier kommt ein weiterer Vorteil der B&R-Lösung zum Tragen: Da die Hard- und Software aus einer Hand kommt und von APROL direkt erkannt wird, fällt kein weiterer Programmieraufwand an.

Wie trägt APROL dazu bei, dass Industrie-4.0-Themen wie Condition Monitoring in den Unternehmen richtig Fahrt aufnehmen können?

Lauer: APROL dient als Basis für die unterschiedlichsten Anwendungen und reduziert so den Aufwand für die Umsetzung von Industrie-4.0-Konzepten. Für das Condition Monitoring bietet das Prozessleitsystem zudem einen speziellen Funktionsbaustein, der durch das maßgeschneiderte analoge Eingangsmodul X20CM4810 optimal ergänzt wird. Letzteres kann die für eine Schwingungsanalyse erforderliche Fourier-Transformation dezentral ausführen.

Gibt es hierzu ein Beispiel?

Lauer: Wir haben diese Ressourcen zum Beispiel verwendet, um eine alte Bandsäge mit „Knöpfchensteuerung“ aus dem Bestand der Lernfabrik zu digitalisieren und mit einem Condition-Monitoring-System nachzurüsten. Die Bandsäge kann für Demonstrationszwecke in verschiedene Zustände versetzt werden. Auch mit einer kostengünstigen Condition-Monitoring-Lösung, bei der nur der Vorschubdruck erfasst wird, ist eine Aussage über den Zustand des Sägeblatts beziehungsweise des Sägeteils möglich. Da wir die Maschine aber mit mehreren weiteren Sensoren ausgestattet haben, können wir auch präzisere und umfangreichere Aussagen liefern. Wir haben die Sensordaten mit einem neuronalen Netz verknüpft, das für den Menschen kaum erkennbare Zusammenhänge identifiziert. Damit erhalten wir die erforderlichen Kennzahlen, mit denen APROL etwa dem ERP-System bei Auftragseingang mitteilen kann, welche Maschine frei ist und ob das Sägeblatt noch über eine ausreichende Standmenge verfügt. Als lokaler Datenknotenpunkt dient eine kleine Steuerung von B&R aus dem X20-System. Sie lässt sich wegen der integrierten OPC-UA-Schnittstelle besonders einfach in APROL und andere übergeordnete Systeme einbinden. So können Unternehmen selbst bei Maschinen mit geringem Wertschöpfungsanteil einen zusätzlichen Mehrwert generieren.

Läuft das neuronale Netz innerhalb von APROL?

Lauer: Die neuronalen Netze bauen wir bisher noch im Simulationswerkzeug Matlab auf, das heißt wir zeichnen alle Sensordaten mit Matlab auf, führen eine Analyse durch und verarbeiten die Ergebnisse in einem neuronalen Netz. Dieses berechnet die Kennwerte, die wir brauchen. Prinzipiell ist es aber auch möglich, ein neuronales Netz in Python zu programmieren und dieses dann - wie die erwähnte REST-Schnittstelle - nahtlos in APROL zu integrieren.

APROL lässt sich auch auf virtuellen Rechnern für Cloud-Anwendungen installieren. Nutzen Sie diese Möglichkeit, um die Konnektivität Ihrer Lernfabrik zu erhöhen?

Wank: Ja, wir nutzen APROL in einer privaten Cloud. Dort liegen in einer verschlüsselten SQL-Datenbank die prozessrelevanten Daten aus dem APROL-Traceability-System. Bei Bedarf können andere Systeme auf diese Datenbank zugreifen, wie beispielsweise unser Shopfloor-Management-System. Das liegt komplett in einer öffentlichen Cloud, damit sich interessierte Unternehmen mit minimalem Aufwand einklinken können. Auf längere Sicht wollen wir das Management-System wieder in die Lernfabrik zurückholen und auf einem eigenen Rechner in eine private Cloud legen. Dann können wir dynamisch entscheiden, ob und welche Daten wir im eigenen Produktionssystem halten oder welche Daten in einer öffentlichen Cloud liegen.

Jens Hambach

Wissenschaftlicher Mitarbeiter, TU Darmstadt

„Ein vorrangig an der Technik orientierter Ansatz ist bei Industrie 4.0 nicht zielführend. Wir raten zu einem methodischen Vorgehen, bei dem die Überlegung im Vordergrund steht, was sich konkret im Produktionsablauf verbessern lässt."

Andreas Wank

Wissenschaftlicher Mitarbeiter, TU Darmstadt

„APROL ist mit einer großen Bandbreite an Standardschnittstellen wie OPC UA oder ODBC ausgerüstet. Die Integration von bestehenden Produktions- und IT-Systeme kann so auf allen Ebenen schnell und standardisiert erfolgen."

Jonas Lauer

Masterstudent, TU Darmstadt

„APROL dient als Basis für die unterschiedlichsten Anwendungen und reduziert so den Aufwand für die Umsetzung von Industrie-4.0-Konzepten. So können Unternehmen selbst bei Maschinen mit geringem Wertschöpfungsanteil einen zusätzlichen Mehrwert generieren."

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